



Sich noch ein letztes Mal ein Stäbchen in die Nase stecken lassen, zu einem Barcode auf einem Röhrchen werden, am Zoll sein Gesicht rasch ohne Maske vor die Kamera halten, die Fingerabdrücke scannen lassen, dann fällt er vom Herz, der grosse Stein, den wir seit Tagen mit uns herumschleppen. Wir haben es tatsächlich geschafft! Wir sind da! Im Gepäck über 35 000.- Franken Spenden, die wir nun gemeinsam mit Vanja, der Gründerin von Borderfree Association, persönlich zu den Menschen hier bringen können. In Form von Lebensmitteln, die wir vor Ort kaufen, sowie von Heizöl, medizinischer Versorgung oder Direkthilfe für Notsituationen.
Als wir durch Pfützen ins Auto von Borderfree steigen, sind wir erleichtert, ja fast übermütig. Die Nacht ist dunkel und regnerisch. Viel Strom gibt es nicht mehr in diesem Land und in dieser Stadt, die bis vor Kurzem noch als schillernde Metropole, als Paris Vorderasiens, gegolten hat. Unruhen, Inflation, Korruption und nicht zuletzt der Krieg im Nachbarland Syrien setzen der Wirtschaft und damit den Menschen in diesem geschichtsträchtigen Land massiv zu.
Durch den Regen vor der Windschutzscheibe sehen wir nur nassglänzende Strassen, immer dichter wird der Nebel, nur da und dort blinkt vereinzelt eine Leuchtreklame ins Leere. Unser Ziel: Chtoura. Ein Städtchen gleich an der syrischen Grenze, rund 30 Kilometer von Damaskus entfernt.
Hier im Hinterland sind die Winter regnerisch und kalt, die Sommer heiss und voller Mücken. Samir von Borderfree, mit syrisch-serbischen Wurzeln, selbst zweimal geflohen, fährt gekonnte Schlangenlinien zwischen hupenden Autos und immer grösseren Schlaglöchern hindurch. Auch der Verkehr sei nichts mehr im Vergleich zu früher, erklärt er uns. Denn Benzin ist nur noch schwer aufzutreiben und das zu horrenden Preisen. An den Strassenrändern türmen sich die meterhohen Schneemauern der vergangenen Wochen.
Wir reden Englisch, Schweizerdeutsch, Serbisch und Arabisch durcheinander. Verstehen dennoch irgendwie das Wichtigste: Hier im rund 200 Kilometer langen Grenzland zwischen dem Libanon und Syrien gibt es sprichwörtlich unzählige Camps, von Familiengrösse bis hin zu solchen mit mehreren hundert Bewohner*innen. Die geschätzte Anzahl Menschen, die hier zwischen den Häusern und auf Wiesen ihre Zelte aufgeschlagen haben: rund zwei Millionen. Und das in einem Land mit einer legendär vielschichtigen Demographie, über einer halben Million palästinensischer Flüchtlinge, die bereits seit vielen Jahrzehnten hier leben sowie Menschen aus weiteren Ländern. Mindestens jeder vierte Mensch hier ist, je nach Schätzung und Quelle, Flüchtling.
Als wir gegen Mitternacht hinter dem Haus mit der Wohnung für Borderfreemitarbeiter*innen parkieren, sehen wir nur wenige Meter nebenan die ersten Lager. Eher Zelt-Dörfer, die zwischen Häusern, auf Feldern und Brachen aufgeschlagen wurden. Gebaut aus Holz, Pappe, Abfall und Blachen der UNHCR. Abgesehen von 15 Dollar Unterstützung pro Monat und Kopf (maximal 95 für jede Familie) erhalten die Menschen hier nur noch Wasser und sonst nichts. Und das ist wörtlich zu verstehen. Denn mehr kann hier niemand für sie tun. Der Libanon ist seit zwei Jahren wirtschaftlich am Boden und seit der Explosion im Hafen von Beirut auf allen Ebenen ein Pulverfass. Die Inflation und Versorgungsengpässe haben den Landstrich zwischen Mittelmeer und Gebirge fest im Griff. Offizielle Hilfe gibt es daher nicht für die unzähligen kleinen Anhäufungen von Behausungen, für welche die Menschen den Landbesitzern eine Pacht von rund 15 Dollar pro Monat bezahlen. Vor einigen Jahren sei es noch möglich gewesen, sich als Taglöhner oder Reinigungskraft etwas Weniges zu verdienen, sagt Vanja, doch mit der Wirtschaftskrise fällt auch diese Möglichkeit weg. Die Menschen hungern, leben trotz Schnee und beissender Kälte in undichten, unbeheizten Zelten, eine Kanalisation gibt es nicht und medizinische Versorgung ist nur rudimentär gewährleistet, falls überhaupt. Einmal mehr zu weiten Teilen von MSF, (Ärzte ohne Grenzen), die in so vielen Gegenden der Welt einzige Hoffnung sind. Zur öffentlichen Schule dürfen die Kinder nicht. Deshalb hat Borderfree in einem der Camps eine eigene eingerichtet, in der die Kinder unter anderem Englisch lernen und eine Tagesstruktur erhalten.
Am kommenden Morgen fahren wir zum Händler, der über die vergangenen Tage unsere vorbestellten Hilfspakete eingepackt hat. 270 Stück stehen bereits gestapelt hinter dem Schaufenster, ein alter Transporter parkt vor dem Haus. Daneben auf dem Gehsteig stehen Speiseöl-Flaschen und Säcke mit Kartoffeln.
Dank eurer grosszügigen Spenden können wir solche Notfallpakete für jetzt und einen weiteren Monat bestellen und bringen. Darin sind Basis-Lebensmittel wie Linsen, Tee, Salz, Zucker, Bulgur, Reis und etwas Schokolade für die Kinder. Separat dazu gibt es besagtes Öl und Kartoffeln. Mehl ist kaum mehr erhältlich. Auch an Babynahrung kommt man derzeit nur schwer heran, selbst wenn das Geld da wäre. Es gelingt Bojan, einem weiteren Mitarbeiter von Borderfree, dann doch noch, einen Bäcker zu finden, der während der kommenden acht Wochen 270 Doppelportionen lagerbares Fladenbrot bereitstellen kann.
Kurz: Die Situation ist für die Menschen absolut unzumutbar. Und sie ist ärger denn je. Nicht wenige sind seit acht bis zehn Jahren hier. Der vermissten Heimat so nah und doch ohne Aussicht auf baldige Rückkehr. Hinzu kommt: Wer hier ist, war meist schon vorher arm. Die Reicheren haben zumindest versucht, bis zum Mittelmeer und nach Europa zu gelangen.
Wo bleiben Anbetracht der Not hier die grösseren internationalen Organisationen? Diese Frage begleitet uns ständig. Eine Antwort darauf haben wir nicht. Dafür sind wir auch nicht hier. Unsere Aufgabe ist es zu versuchen, mit Hilfe von Spenden den allerschlimmsten Hunger und die Kälte für kurze Zeit zu lindern, wenngleich auch immer nur für einige Wenige, und – ebenso wichtig – den Menschen hier zu zeigen, dass sie nicht von ganz allen vergessen sind. Die Kriege, vor denen sie geflohen sind, gehen uns ja sehr wohl etwas an. Wir profitieren davon, sei es durch Zugang zu Rohstoffen oder den Export von Kriegsmaterial. Wir sind längst Teil einer Weltengemeinschaft, die sich selbst massiv schadet, in dem sie die Augen verschliesst, wenn es schwierig wird. Probleme lösen sich nicht beim Wegschauen, sie wachsen.
Wir sind zum Tee eingeladen bei Fatima, sie lebt mit fünf Töchtern und ihrem Mann in einem Zelt in einem mittelgrossen Camp. Dieser Ort ist wie ein Wunder. Mit Tapetenresten, Kissen, Papier und Weihnachtsgirlanden hat sie aus dem Verschlag eine gemütliche Stube eingerichtet. Die lebhafte Frau mit dem Sprechtempo eines Boliden und einem Lachen, bei dem der ganze Raum vibriert, ist längst zu Vanjas Freundin und Beraterin geworden. Sie weiss, was die Kinder in der Lager-Schule brauchen, ob es Sinn macht, Kartoffeln oder doch etwas anderes aufzutreiben und wie viele Babys dringendst Milchpulver brauchen, falls wir welches finden sollten. Sie wartet derzeit auf ihre Aufnahme in Schweden. Versprochen ist diese, wann es so weit sein wird, weiss allerdings keiner. Wie alle Familien, die vielleicht Glück haben und dem Hunger und der heftigen Armut hier entkommen, nimmt Vanja auch ihr das Versprechen ab, aus der neuen Heimat Spenden für die weniger Glücklichen zu schicken. Fatima lacht. Natürlich werde sie das tun. Logisch! Und endlich wieder jeden Tag duschen!
Wir besuchen eine weitere Familie, die nicht in einem Camp, sondern auf einer Müllhalde lebt. Ihre Hütte steht mitten in Schlamm und Abfall. Mohammed ist seit einem Eingriff als Kleinkind körperlich versehrt und hinkt schwer. In Syrien konnte seine Familie sich um ihn kümmern, hier gibt es niemanden mehr. Es gibt keine Arbeit für ihn und seine Frau ist mit dem zweiten Kind schwanger. Die Behausung ist kaum mehr als ein leckes Dach über dem Kopf, zwei Teppiche mit Schlammspuren und zwei Matratzen. Geheizt wird mit Plastikabfällen, beissender Rauch steckt in jeder Ritze des fensterlosen Raumes. Die kleine Familie hat dem Schlamm, dem Müll und der Perspektivenlosigkeit nichts entgegenzusetzen. Weder Bücher, Essen, Wärme noch Spielzeug für das kleine Mädchen. Ein Lichtblick sind Houdas Besuche. Sie hat hier früher selbst gelebt, als alleinerziehende Mutter von fünf Kindern. Wenn sie auf der Müllhalde gearbeitet hat, um ein paar libanesische Lira dazuzuverdienen, musste sie das jüngste Kind in der Hütte anbinden, damit ihm nichts zustösst, solange sie nicht drauf achtgeben konnte. Borderfree hat ihr nun eine Wohnung gefunden und ihre Kinder dürfen sogar die offizielle Schule besuchen. Wie ein umgekehrter Handschuh sei sie seither, sagt Vanja, habe wieder Kraft und Zuversicht gefunden, und den Glauben daran, dass ihre Kinder eine Zukunft haben.
Wir beraten uns und beschliessen, auch für Mohammeds Familie für mal mindestens zwei Jahre eine Wohnung zu suchen und sie mit dem Nötigsten wie Kochgelegenheit und Dusche auszustatten. Mit 2000.- Franken sollte das machbar sein, Borderfree wird ebenfalls helfen und Mohammed und seine Familie mit Hilfspaketen unterstützen. Sie weiter hier leben zu lassen, ist undenkbar. Noch am selben Abend stellt uns Achmed von einem lokalen Hilfswerk eine Wohnung für 35 Euro pro Monat in Aussicht. Über Geld verfügt auch er kaum, aber über wertvolle Beziehungen.
Wir wissen, dass unsere Entscheidung zwei Seiten hat. Es ist immer ein kaum lösbares Dilemma, wofür das verfügbare Geld eingesetzt werden soll. Schliesslich sollen möglichst viele Menschen mit dem Nötigsten ausgestattet werden, für mehr reicht es nur in Ausnahmefällen. Wie im Fall von Mohammed oder der jungen Frau, die seit Wochen an einer schweren Mandel-Entzündung leidet und deren Operation wir übernehmen. Zwar gibt es eine mobile Klinik im einem der Camps, in der das Rudimentärste wie Verbände oder eine einfache Untersuchung möglich sind, aber für alles Weitere fehlen die Mittel. Schon eine Wundsalbe oder gewöhnliche Schmerztabletten sind hier Luxus.
Deshalb wird Borderfree gemeinsam mit Achmeds Organisation und Herz & Kohle eine zentral gelegene kleine und stationäre Klinik einrichten, die allen bedürftigen Menschen offensteht, auch der lokalen Bevölkerung. Und die zu Fuss erreichbar ist, denn schon der Transport ist oft eine unüberwindbare Barriere für den Arztbesuch.
Grössere Operationen werden übrigens zur Hälfte von MSF übernommen, den Rest bezahlt Borderfree. Deshalb gibt es auch schon mindestens drei neugeborene Mädchen mit dem Namen Vanja hier in der Gegend…eine der einzigen Möglichkeiten, ihr dafür zu danken, dass sie das Leben so Vieler erträglicher macht.
Mittlerweile geht es auch sehr vielen Libanes*innen hier in der Gegend kaum besser als den Menschen in den Camps. Die Banken sind dicht. Wer noch Geld hat, kann es nicht abheben. Löhne, Essen, Handwerker, alles muss in Cash bezahlt werden. Dafür versetzen die Menschen ihr Hochzeits-Gold und andere Habseligkeiten. Doch die Inflation ist so rasant, dass die Preisschilder in den noch offenen Läden oder Imbiss-Buden schon gar nicht mehr angepasst werden. Wir besuchen deshalb auch libanesische Familien, die unter höchst prekären Bedingungen leben, teilweise vergleichbar mit jenen in den Lagern. Immer mehr von ihnen brauchen die Unterstützung ebenso dringend, wie die Menschen vor ihren Türen und in ihren Hintergärten. Noch vor wenigen Jahren war das Preisniveau hier vergleichbar mit jenem in der Schweiz, insbesondere in Beirut, jetzt steht das Land still. Deshalb ist es Vanja wichtig, auch diese libanesischen Familien möglichst mitzuversorgen.
Sich davon entmutigen zu lassen, dass wir niemals allen Menschen hier auch nur das Nötigste bringen können, liegt nahe. Will uns immer wieder einholen. Aber es bringt nichts. Resignation ist ein Hemmschuh und den braucht hier keiner. Das gleiche gilt für unsere Wohlstands-Scham. Es kümmert keinen, dass wir uns blöd vorkommen, wenn die Menschen sich überschwänglich bedanken, während wir wissen, dass wir hier jederzeit wieder wegkommen, zurück in unser warmes, sattes Leben, das uns nur durch den Zufall der Geburt beschieden wurde. Damit müssen wir schon selbst zurechtkommen. Viel wichtiger ist es, sich stets vor Augen zu halten, wie froh jede einzelne Familie ist, die wir unterstützen können. Das muss reichen. Auch gegen die Empörung darüber, wie Europa und die Welt an so viele Orten aus mannigfachen Gründen in Kauf nehmen, dass ganze Familien zu Grunde gehen, weil keiner etwas tut. Das fällt schwer. Steht aber auf einem anderen Blatt, beeinflusst nicht das Hier und Jetzt, sondern das politische Denken und Handeln auf lange Sicht.
Kinder lehnen sich an, klatschen uns ab, wir werden geherzt, Frauen halten unsere Hände und wir werden zum kostbaren Tee eingeladen und vielfach gesegnet. Und es wird oft gelacht. Wir müssen diesen Dank im Namen aller Spender*innen annehmen und gebührend würdigen – dies nicht zu tun, wäre verletzend.
Nach zwei Tagen ziehen wir Bilanz: 270 Familien können für zwei Monate mit Lebensmitteln und Wärme versorgt werden, inklusive Brot, 5000.- gehen an eine neue Klinik, deren Baustelle wir besucht haben, Mohammed und seine Familie haben für mindestens zwei Jahre eine anständige Bleibe, medizinische Versorgung konnte in den ärgsten Fällen organisiert werden, auch finanzielle Nothilfe, wo sie am dringendsten nötig war und Babynahrung für drei Monate aufgetrieben. Wir werden weitermachen und euch auf dem Laufenden halten. Und sind einmal mehr zutiefst beeindruckt von Vanja und der Arbeit von Borderfree – sowie von eurer grosszügigen Unterstützung!
Als wir am dritten Tag früh zum Flughafen aufbrechen, zeigt sich der Libanon von seiner schönsten Seite. Schnee liegt auf den Bergketten, der Himmel wölbt sich in durchsichtigen Pastelltönen darüber. Und als sich endlich das Meer und Beirut vor uns ausbreiten, mischen sich Ehrfrucht mit grossem Bedauern darüber, dass dieses prächtige Land und unzählige Menschen hier und anderswo Leben fristen müssen, die wir uns nicht einmal ansatzweise vorstellen können.
Was bleibt, ist Dankbarkeit und das Wissen um die Verantwortung, die wir alle tragen – ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.